Demokratie braucht Urheberrecht
Unsere liberale Gesellschaft hat Voraussetzungen. Zu diesen zählen Gemeinsinn, Bürger im Diskurs und eine freie Presse. Das gilt es zu schützen, ganz konkret. Ein Beitrag von Jan-Nicolaus Ullrich, Stv. Leiter Recht und Regulierung der bei der VG Media.
Seit geraumer Zeit ist schmerzhaft die mangelnde Selbstverständlichkeit und hohe Fragilität liberaler Demokratien wahrnehmbar. Diese Krise ruft das Diktum von Ernst-Wolfgang Böckenförde ins Gedächtnis, wonach der freiheitliche, säkularisierte Staat von Voraussetzungen lebt, die „er selbst nicht garantieren kann“. Der moderne Staat und jedes demokratisch konzipierte Gemeinwesen – auch das der Europäischen Union – sind keine Gegebenheiten, sondern Errungenschaften und fortdauernde Projekte, deren Behauptung, Vitalität und Gestaltung in der unveräußerlichen Verantwortung ihrer Bürger liegen.
Bei tiefer gehender Betrachtung lassen sich drei Faktoren identifizieren, die zwar weder einzeln noch zusammengenommen hinreichend, aber doch jeweils notwendig sind, um den freiheitlich-demokratischen Staat zu erhalten: Gemeinsinn, theoretisch wie praktisch vernünftige und zur Mitteilung fähige und bereite Bürger sowie eine freie, unabhängige Presse und Berichterstattung. Es handelt sich dabei nicht um isoliert nebeneinanderstehende, sondern um interdependente, miteinander vertäute Pfeiler einer jeden Demokratie.
Der Gemeinsinn ist das Bindemittel, das die Gesellschaft eines Staates in guten wie in schlechten Zeiten im Innersten zusammenhält. Er bildet die Grundlage dafür, dass die Menschen dauerhaft im Diskurs bleiben und gegebenenfalls pragmatische Kompromisse schließen können. Speziell in Deutschland stehen sich seit den siebziger Jahren in der Debatte über Gemeinsinn das Konzept des Verfassungspatriotismus (Sternberger/Habermas) und die Betonung kultureller Nähe beziehungsweise Identität gegenüber. Tatsächlich ist Kultur notwendig, um dem eher rationalen Konstrukt eines Verfassungspatriotismus menschlich-irrationalen Halt zu verleihen. In der EU ist Kultur einer der wichtigsten Integrationsfaktoren. Sie schafft Gemeinsinn. Kultur ihrerseits wird durch Kreative, das heißt Urheber, geschaffen. Deren Schöpfungen machen in vielen Fällen wiederum erst Unternehmer möglich, die investieren und Produktion sowie Distribution organisieren.
Für die moderne Demokratie unentbehrlich
Eine Demokratie setzt als Zweites Bürger voraus, die zur Meinungs- und Willensbildung fähig und auch zur Äußerung bereit sind. Ohne aktive Teilnahme einer in jeder Hinsicht kritischen Masse vernünftiger Bürger kann eine liberale Demokratie nicht funktionieren. Wenn sich niemand öffentlich artikuliert, herrscht im Staatsgebäude Totenstille. Unabdingbare Voraussetzung einer Selbstartikulation ist Bildung. Bildung (Padeia) war für Platon und Aristoteles die vornehmste Tätigkeitsform des Staates. Die Teilnahme am Gemeinwesen galt als Tugend, das Zoon politikon war das dominierende Menschenbild. Keiner verkörpert den Willen zur Bildung und Mitteilung so ideal wie Sokrates, der als Vater der ersten Aufklärung den Übergang vom „Mythos zum Logos“ (W. Nestle) einleitete. Quelle und Ausdruck von Bildung sind Werke der Literatur, Wissenschaft und Kunst. Sie werden von Urhebern geschaffen.
Allgemeinbildung wird ergänzt durch Alltagsbildung, womit wir zum dritten Pfeiler kommen, einer freien, unabhängigen Presse. Diese Institution gewann erst im Zuge der Nationalstaatsbildung im 18./19. Jahrhundert ihre besondere demokratiefördernde Bedeutung, als Probleme komplexer, räumliche Distanzen größer und Demokratien repräsentativ mit Volksvertretungen ausgestaltet wurden. Im Raum zwischen Staat und Bürger entwickelte sich eine politisch räsonierende Gesellschaft, eine kritische Öffentlichkeit, informiert durch eine gegenüber dem Staat freie, unabhängige Presse. In der Gegenwart übernehmen die Funktion einer Alltagsbildung, Informationsvermittlung und ‑einordnung komplementär zur Presse auch Hörfunk- und Fernsehsender. Nach dem Bundesverfassungsgericht ist eine freie, unabhängige Presse und Berichterstattung durch Rundfunksender „für die moderne Demokratie unentbehrlich“. Die genannten Medienunternehmen sind also systemrelevante Einheiten, „too important to fail“. Auf diesem Sektor kann sich „keine Demokratie ein Marktversagen“ leisten (Habermas).
Gesellschaftliche Fragmentierung
Die von Böckenförde beschriebene abstrakte Gefährdungslage, in der sich der freiheitlich-demokratische Staat seit Beginn der Säkularisation befand, hat sich in Teilen konkretisiert. Der Westen „schwankt“ (Di Fabio). Das Modell staatlich verfasster liberaler Demokratie steht vor einer Vielzahl komplexer Probleme und sucht in seinem Innern nach Sinn, Schwerpunkt und Akzeptanz. In vielen Staaten der westlichen Hemisphäre einschließlich der EU verweigert ihm ein wachsender Anteil von Bürgern die Zustimmung.
Wer sich auf die Suche nach Gründen begibt, stößt auch auf Auswüchse der Digitalisierung, die die drei genannten demokratischen Grundpfeiler disrumpieren. Die Protagonisten sind Big Techs wie Facebook oder Google. Das Problem besteht zum einen darin, dass deren netzbasierte, transnationale Geschäftsmodelle mit ihrer grundlegend neuen Formatierung sozialer Interaktion die Fragmentierung der Gesellschaft vorantreiben. Zum anderen haben Big Techs als Intermediäre ohne Kompensation eine Vielzahl wirtschaftlicher Wertschöpfungsketten mit hohem demokratischen Mehrwert aufgebrochen.
Die demokratischen Grundpfeiler werden unterspült
Individualisierung, Differenzierung und Fragmentierung sind spätmoderne Phänomene. Durch die auf Personalisierung angelegten digitalen Geschäftsmodelle werden sie algorithmisch kontinuierlich „optimiert“. Das Ergebnis dieses Prozesses ist eine „Gesellschaft der Singularitäten“, wie der Soziologe Andreas Reckwitz sagt, in der sich das Allgemeine, der demokratisch notwendige Gemeinsinn verflüchtigt. Viele Bürger finden nicht mehr als Öffentlichkeit zusammen, sondern existieren nur noch isoliert voneinander, in Gestalt spezieller Communities und in geschlossenen Echo-Kammern des Internets. Das hat epistemische Konsequenzen. Dem „User“ vergeht buchstäblich Hören und Sehen. Er nimmt nicht mehr selbst wahr, sondern nur noch durch Filterblasen. Gefunden wird lediglich, was dem Suchenden gefällt. Das ist der sichere Weg vom Logos zurück zum Mythos. Die Singularisierung verringert damit auch die Aussichten auf allseitig vernünftig geführte Entscheidungsprozesse.
Große Intermediäre unterspülen mit ihren Geschäftsmodellen die genannten demokratischen Grundpfeiler weiter insofern, als sie ohne Leistung einer Vergütung massenhaft fremde, Gemeinsinn, Allgemein- und Alltagsbildung stiftende Leistungen von Urhebern, Produktionsunternehmen, Presseverlegern und Sendeunternehmen zum eigenen finanziellen Vorteil, unter Abschöpfung von Werbegeldern, in ihre Angebote übernehmen und damit jene, welche die freiheitlich-demokratische Grundordnung an allererster Stelle am Leben halten, finanziell entkräften. Ein angemessenes und ausreichendes, für das Überleben der Demokratie unabdingbares kulturelles Bildungsangebot wird damit erschwert.
Nur bedingt demokratieverträglich
Dass die Digitalökonomie und an ihrer Spitze die großen Intermediäre ungehindert einen derart großen Einfluss auf demokratiekonstitutive Faktoren nehmen konnten, liegt zunächst an einer kurzsichtigen Zurückhaltung in der staatlichen Regelungsaktivität unter Verweis auf „technologische Innovation“ als neues Dogma des 21. Jahrhunderts. An einer radikal neoliberalen Logik, wonach Markt und Staat in Antithese zueinander stehen und allein frei waltende Marktkräfte zu besten, weil effizientesten Ergebnissen führen, wurde – in erstaunlichem Vertrauen in eine Bereitschaft zur Selbstregulierung und eine gleichsam natürlich demokratisierende Kraft des Internets – auch dann noch weiter festgehalten, als es im Internet nicht mehr allein um den Handel mit alltäglichen Gebrauchsgegenständen wie Waschmaschinen oder Smartphones ging, sondern nach dem Aufkommen des Web 2.0 auch um persönliche Profile, soziale Beziehungen und zwischenmenschliche Kommunikation als Wirtschaftsgüter. Auf diese Weise hat die Politik unreflektiert zugelassen, dass unter dem Mantel des technologischen Wandels wirtschaftliche Kräfte demokratiekonstitutive Bereiche entern, ökonomisieren und nach der Effizienzmaxime ausrichten.
Denkt man diesen Prozess fort, verkehrt sich das Subordinationsverhältnis von Staat und Markt(teilnehmer) langsam, aber sicher ins Gegenteil: Es wird nicht mehr nach der Demokratiekonformität der Marktwirtschaft gefragt, sondern die Demokratie ganz einfach marktkonform gemacht. An die Stelle des Zoon politikon rückt der Homo oeconomicus. Die US-amerikanische Politologin Wendy Brown hat diesen Paradigmen- und Prioritätenwechsel als „Neoliberalism’s stealth revolution“ beschrieben. Dass es sich hierbei um einen schleichenden Prozess handelt, liegt im Hinblick auf die Big Techs vor allem daran, dass sie, den Nutzeroberflächen ihrer Angebote nach zu urteilen, besonders demokratieverträglich erscheinen. Das ist, wie erläutert, jedoch nur bedingt der Fall.
Wettbewerb im gesamtgesellschaftlichen Kontext
Zurück zu Böckenförde, dem freiheitlichen Staat und seinen Voraussetzungen: Böckenförde wollte nicht staatlichen Fatalismus und Passivität herbeireden. Für ihn stand außer Frage, dass sich der Staat in Sorge um seine eigene Existenz und in Verantwortung gegenüber seinen Bürgern um den Nährboden, aus dem er seine demokratische Kraft zieht, kümmern soll. Zwar kann der Staat seine Voraussetzungen nicht erzwingen. Er kann jedoch für die Unterstützung, Bestärkung und den Schutz der notwendigen Infrastrukturen des Gemeinwesens – wie zum Beispiel der Presse als „Rückgrat der politischen Öffentlichkeit“ (Habermas) – und die Bereitstellung des institutionellen Rahmens tätig werden. Entsprechendes gilt natürlich auch für die EU, die sich zum Wert der Demokratie mit dem Vertrag von Lissabon 2009 ausdrücklich bekannt hat.
Welche rechtlichen Handlungsoptionen aber stehen dem Staat speziell vor dem Hintergrund der geschilderten, durch die Digitalökonomie ausgelösten Gefährdung zur Verfügung? Eine grundsätzliche Orientierung bieten das Denken in Ordnungen und die Unterscheidung zwischen konstituierenden und regulierenden Prinzipien des Wettbewerbs, die der Ordoliberalismus nach Walter Eucken vorsah, der moderne, radikale Neoliberalismus hingegen nicht mehr kennt. Konstituierende Prinzipien begründen erst den Markt, die regulierenden halten ihn am Laufen. Ein freiheitlich-demokratisches Gemeinwesen kann den wirtschaftlichen Wettbewerb nicht nach neoliberaler Logik isoliert und als ungeregelten Selbstzweck einfach geschehen lassen. Er ist in den gesamtgesellschaftlichen Kontext zu stellen. Aus diesem Kontext heraus kristallisiert sich die positive Wirtschaftsordnung, der Rahmen, innerhalb dessen sich freier Wettbewerb erst entfalten kann, darf und soll. Staat und Markt nach dem ordoliberalen Ansatz stehen nicht in Antithese, sondern in Synthese zueinander.
Soziale Dimension lange nicht bestimmend
Um den demokratieabträglichen Nebeneffekten der Digitalökonomie abzuhelfen und Ähnlichem vorzubeugen, kann der Staat (die EU) nun sowohl regulieren als auch lenkend die Rahmenordnung ausgestalten. Intermediäre sind zwar praktisch, nützlich und sehr bequem – systemrelevant sind sie nicht. Zum einen besteht unter dem Aspekt der Regulierung die Möglichkeit, demokratiefördernd in den Wettbewerb einzugreifen, um direkt privatwirtschaftliche Tätigkeiten mit negativen Effekten zu unterbinden. Zum anderen steht es dem Staat (der EU) offen, im Bereich der konstituierenden Prinzipien, bei der Ausgestaltung der positiven Wirtschaftsordnung, diejenigen Kräfte zu stärken, die zu seinem Bestehen beitragen, etwa durch Zu-/Anerkennung subjektiver Rechte, noch genauer: durch die Schaffung und Stärkung von Urheberrechten als private Eigentumspositionen. Denn die Leistungen von Urhebern, Produktionsunternehmen, Sendeunternehmen und Presseverlegern gehören zu diesen Kräften. Sie stiften allesamt Kultur und damit Gemeinsinn und tragen auf unterschiedliche Weise qualifiziert zur (gegenseitigen) Wissens‑, Meinungs- und Willensbildung bei. Mit anderen Worten: Ihr urheberrechtlicher Schutz ist demokratietheoretisch gerechtfertigt.
In der deutschen und europäischen Geschichte spielte eine solche explizit demokratietheoretische Rechtfertigung des Urheberrechts bislang noch keine Rolle. In der Diskussion, die zur Entstehung eines Autorenschutzes im Deutschland des 19. Jahrhunderts führte, dominierten allein individualistische, das heißt an besonderen persönlichen Interessen orientierte Theorien. Das überrascht nicht, standen doch im Mittelpunkt des Europas an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert das Individuum und seine Emanzipation. Seine soziale Dimension war bei der Formulierung der Menschenrechte noch nicht bestimmend. Zudem herrschte im 19. Jahrhundert noch die konstitutionelle Monarchie als Staatsform vor. Dieser war an der Stärkung demokratiekonstitutiver Faktoren nicht gelegen. Sie betrieb vielmehr Zensur, damit „Preßfreiheit“ nicht zu „Preßfrechheit“ (Friedrich Wilhelm II.) werden konnte.
Kurzsichtig und zu einseitig argumentiert
Aber auch im 20. Jahrhundert fand das demokratietheoretische Argument in der Auseinandersetzung um die Begründung von Urheberrechtsschutz in Europa noch keine Verwendung. Zwar gesellten sich zur individualistischen Rechtfertigung eines Schutzes kollektivistische, also gemeinschaftsbezogene Ansätze. Diese waren jedoch von utilitaristisch-ökonomischer Art, suchten einen gesetzlichen Schutz geistiger Schöpfung oder unternehmerischer Leistung also nicht gesamtgesellschaftlich, sondern allein über den ökonomischen Maßstab der Effizienz zu erklären. Urheberrechte hatten rein wirtschaftlich zu funktionieren.
Soweit in Diskussionen ein öffentliches Interesse überhaupt Erwähnung findet, geschieht dies unter dem Aspekt der Sozialbindung des Urheberrechts als Eigentumsrecht. Urheberrechtsschutz und öffentliches Interesse werden gemeinhin als Gegensatz verstanden. Das ist jedoch unzutreffend: Urheberrechtsschutz ist selbst sozial sinnvoll und im öffentlichen, demokratischen Interesse. Die Demokratie gewinnt durch das Urheberrecht an Stabilität und Essenz. Es ist deshalb auch kurzsichtig und zu einseitig argumentiert, wenn der Regelung eines Presseverlegerleistungsschutzrechts das Grundrecht der Meinungsfreiheit entgegengehalten und eine drohende „Gefährdung der Informationsfreiheit“ ins Feld geführt wird. Wer eine solche Begründung wählt, sägt unweigerlich an dem Ast, auf dem er und alle anderen Empfänger von Medienangeboten sitzen. Wenn es keine Medienunternehmen mehr gibt, die sich finanzieren können, kann man ihre Leistungen nicht mehr in Anspruch nehmen.
Bislang verhalten und versteckt
Die demokratietheoretische Rechtfertigung von Urheberrechtsschutz ist keine Neuschöpfung. Sie findet ihr historisches Vorbild in der berühmten Copyright-Clause der amerikanischen Verfassung von 1787, wonach der Kongress zur Förderung des Fortschritts „of Science and Useful Arts“ Urheberrechte regeln kann. Gerade auch aus Gründen der Meinungsfreiheit erkannten die Verfassungsväter einen Urheberrechtsschutz als wesentliche Voraussetzung zur Sicherung einer „free constitution“ (George Washington). Davon ausgehend hat der amerikanische Jurist Neil W. Netanel vor rund zwanzig Jahren eine demokratietheoretische Rechtfertigung des Urheberrechts formuliert und festgehalten, dass schon die konstitutive Regelung von Urheberrecht im öffentlichen, weil demokratischen Interesse liegt.
Das Europäische Parlament kann am 12. September die demokratietheoretische Rechtfertigung des Urheberrechts praktisch mit Leben füllen. Bislang fand sie in Europa nur verhalten und versteckt im ersten Entwurf der Kommission für eine Urheberrechtsrichtlinie Erwähnung, dort im Zusammenhang mit der Regelung eines europäischen Presseverlegerleistungsschutzrechts. In den Hinweisen auf die kulturelle Dimension des Urheberrechts, die sich in einigen Unionsrechtsakten finden, ist sie enthalten. Es gilt, einen hinreichend starken Urheberrechtsschutz nicht nur als Konsequenz der Aufklärung, sondern als Voraussetzung weiterer Aufklärung und essentielle Bedingung für die Demokratie zu begreifen und rechtlich anzuerkennen.
Gastbeitrag von Jan-Nicolaus Ullrich ist in der Frankfurter Allgemeine Zeitung, 11. September 2018 erschienen und kann unter dem unten stehenden Link abgerufen werden.