Wir haben dieser Digitalisierung nicht unsere Wahlstimme gegeben. Wir haben nicht einen Sachverhalt zusammengetragen, verstanden, abgewogen und selbstbestimmt darüber entschieden. Wir haben kein Kreuz gesetzt für „Ja“ oder „Nein“, keiner Partei oder wenigen Unternehmern eine Generalvollmacht erteilt, keine Patientenverfügung unterschrieben.
Dennoch hat die Digitalisierung jeden Bereich unseres Lebens übernommen, den beruflichen, privaten, geheimen und manchmal auch den intimen. Diese Art der Digitalisierung ist aber kein Geschäft des täglichen Lebens. Jeder sollte in Freiheit und Kenntnis der Funktionsweise und der Folgen über sie entscheiden. Zu der Voraussetzung urteilsfähiger Freiheit gehört es, die Umwelt und ihre Veränderungen zu erkennen und an ihr selbstbestimmt teil- oder nicht teilzuhaben.
Beeinträchtigungen dieses Umfangs und Eingriffe dieser Intensität haben wir nach der Abschaffung der Leibeigenschaft, seit der Aufklärung, den Stein- und Hardenbergschen Reformen ausschließlich im Verhältnis des Staates zu seinen Bürgern akzeptiert, und das nur, soweit „unsere Staaten“ auf der Grundlage einer in sich konsistenten, gemeinwohlorientierten Ordnung agieren.
Die Sache mit der Relevanz
Ordnungen des Rechts, die Demokratie, sind Ausdruck einer Willensbildung, finden ihre Legitimation in der Ableitung vom Souverän, dem Willen des Volkes. Sie sind Arbeitsergebnisse, die auf Wissen, Vernunft und dem Wettbewerb um maximale Erkenntnis gründen. Bindungen unserer Individualität und partiell Einschränkungen unserer Freiheit haben wir bis zum Eintritt der Digitalisierung nur zugelassen, wenn dadurch Freiheit und Grundrechte erhalten wurden.
In welchem gegenseitigen Verhältnis stehen wir aber zu den Monopolen weniger Digitalisierungsunternehmer? Haben wir ein Ergebnis über den Umfang gefunden, in dem wir eine Digitalisierung an uns zulassen? Haben wir diesen Unternehmern unsere Stimme gegeben, Eric Schmidt von Google etwa – der auf die Frage eines Journalisten des „Spiegels“ am 7. Juni 2014, „wann er“, Schmidt, „sich das letzte Mal gegoogelt habe“, wörtlich antwortete: „Das mache ich nie, ich lebe lieber selbstbestimmt, als dass ich mich von anderen definieren lasse.“?
Oder haben wir Marc Zuckerberg, den geschäftsführenden Facebook-Gesellschafter, gewählt, nachdem er uns seinen allein auf Facebook bezogenen Relevanzbegriff nahebrachte, wonach „ein soeben vor unserer Haustür sterbendes Eichhörnchen für uns von größerer Relevanz sein kann als sterbende Menschen in Afrika“?
Alles andere wäre Sozialromantik
Die Digitalisierung ist die Kommerzialisierung von Forschungsergebnissen durch Wirtschaftsunternehmen. Diese Forschungsergebnisse wurden erzielt, um den berechtigten Sicherheitsinteressen von Staaten zu dienen. Die Digitalisierung hat elektronische Verbreitungswege geschaffen, und einige Digitalunternehmer haben technische Zugänge, Schrankenhäuser, aufgestellt. Vor fast zwanzig Jahren ist die Digitalisierung gekapert worden.
Sehr wenige Unternehmer haben sie zu ihrem Geschäft, dem Unternehmenszweck ihrer datenhäufenden, oligopolistisch geprägten Gesellschaften gemacht. Die Zugangswächter, Weltzöllner und Konditionengestalter sind zum Beispiel Amazon, Google und deren Obergesellschaft Alphabet sowie Facebook. Vielleicht gehören zu diesen Oligopolen heute weltweit sechs bis acht Unternehmen, die sehr wenigen Gesellschaftern, den Digitalunternehmern, gehören. Mehr als acht sind es sicherlich nicht.
Jedes dieser Unternehmen ist ausschließlich den Eigentümerinteressen, der Gewinnmaximierung verpflichtet. Das „Netz“ als Instrument der Teilhabe aller ist eine sozialromantische Verklärung. Für unsere Daten erhalten wir keine Gegenleistung, nicht einmal eine Antwort auf unsere Suchanfragen, sondern nur Impulse, die zu unseren Nutzerprofilen passen und sich für die Digitalunternehmer bestmöglich kommerzialisieren lassen.
Keine freundlichen Bibliothekare des Weltlesesaals
Wir werden verändert: Der unaufgeklärte Mensch stellt alles zur Verfügung, ohne die Auswirkungen zu erfassen. Der aufgeklärte Mensch wird verändert, da er die Digitalisierung nur mit der „Schere im Kopf“ nutzt, im Bewusstsein der dauernden Überwachung und Verwendung der Daten über ihn. Die Digitalunternehmer nehmen diese Veränderung an uns vor. Sie reduzieren uns auf Google- und Facebook- Datenwerbeprofile.
Die Aufarbeitung und algorithmische Deutung unserer Suchanfragen, ihre Profile von uns, führen aber zu immer verengteren Kreisen und Impulsen, deren selbstreferenzieller Charakter uns determiniert. Wir werden um jedes Korrektiv unserer immer auch einseitigen Interessen gebracht, korrigierende Informationen und abweichende Meinungen werden uns immer weniger zugänglich gemacht.
Die Digitalunternehmer organisieren ihre Eigentümerinteressen, wenn sie wie Google irreführend behaupten, sie „organisieren die Informationen der Welt“. Diese Digitalunternehmer sind nicht dem Gemeinwohl verpflichtet. Sie sind nicht der freundliche Bibliothekar des Weltlesesaals im Weltwissenszentrum am Standort der Vereinten Nationen. Wir erhalten von ihnen – anders als in der industriellen Revolution – kaum neue Arbeitsplätze oder angemessene Steuerzahlungen als Gegenleistung.
Dass wir auch ja nicht verstehen
Auch wenn es uns die autosuggestiven Systeme dieser Digitalunternehmer nahezubringen versuchen, indem sie das immergrüne, kluge, stromsparende, sprechende Zuhause anpreisen –, das aber zutreffender wohl bezeichnet werden sollte als der noch fehlende Teil des Werbeprofils über unsere häuslichen Gewohnheiten – bleibt festzustellen: Die Digitalisierung durch diese wenigen Unternehmer kann auch nicht dadurch gerechtfertigt werden, dass deren unautorisierte Datensammlungen die großen Probleme der Menschheit, etwa im Bereich der Medizin, der Umweltverschmutzung, der Welternährung oder der Bildung gelöst hätten.
Selbst die zusammengefügten Datensammlungen von Google, Facebook und Amazon haben den Krebs nicht niedergerungen, die Klimaveränderungen nicht aufgehalten. Bis jetzt stimmt eine andere Gleichung: Unentgeltliche Datenlieferungen aller führen zu nicht gekannten Gewinnen sehr weniger Digitalunternehmer und verstärken so das Ungleichgewicht zwischen ihnen und uns.
Obwohl wir dies wissen und unseren Regierungen langsam der asymmetrische Angriff auf die Grundlagen unserer Gesellschaften, insbesondere die Selbstbestimmung in Freiheit, dämmert, greift jeder dieser Digitalunternehmer weiterhin in nicht gedämpfter Intensität in unser Leben ein, ohne uns, zumindest ein wenig, auf der Oberfläche, für das Sichtbare, zu ertüchtigen. Vielmehr sollen wir nicht verstehen, in welchem Umfang wir bei jeder Amazon-Bestellung oder den Google-Suchanfragen einwilligen in die unentgeltliche Sammlung und Aufarbeitung unserer Daten.
Wie lange wollen wir uns die Fremdbestimmung noch leisten?
Wir sollen die Funktionsweise des Algorithmus nicht begreifen, mit welchem die vermeintlichen Antworten, zutreffender wohl die sich aus unserem Nutzerprofil ergebenden Impulse, auf unser Suchen ausgegeben werden. In was können wir dann aber einwilligen, wenn wir die Funktionsweise des Algorithmus gar nicht kennen? Solange die Kenntnis darüber fehlt, wie wir ver- und bearbeitet, geerntet und mit einem neuen Impuls zur Bewegung veranlasst werden, scheidet jede wirksame Zustimmung aus.
Die Intensität des Eingriffs durch diese Unternehmen findet damit weder eine Legitimation im Gemeinwohl, noch ist irgendeine wirksame individuelle Willensbekundung artikuliert. Wille und Zustimmung können sich aber wirksam nur bilden, wenn der gesamte Sachverhalt, auf welchen sich die Zustimmung bezieht, sowie die Folgen einer Zustimmung verstanden werden.
Wie lange wollen wir uns aber solche Datenübertragungen an wenige Digitalunternehmer noch leisten, ohne zu verstehen, was passiert? Kennen wir den individuellen Moment, in welchem wir die kognitiven und intellektuellen Fähigkeiten ganz verloren haben, Fremdbestimmungen zu entdecken und in Freiheit abzuwehren?
Wir lassen sie gewähren
Digitale Marktbeherrscher geben auf diese Fragen Antworten eigener Art. Sie beherrschen die mehrseitigen Märkte, auf denen sie sich durchgesetzt haben. Sie erstellen die Verhältnisse und nutzen regelmäßig eine identische Schlachtordnung. Sie fügen ihre Geschäfte nicht in die bestehenden gesellschaftlichen und rechtlichen Ordnungen ein. Sie setzen den technischen Imperativ ohne Abstimmung.
Sie verwirklichen uneingeschränkt, was technisch möglich ist, ohne zu fragen, ob das, was technisch möglich, auch rechtlich zulässig ist. Dieses Verhalten ist nur möglich, weil die Sachverhalte komplex sind. Die Digitalunternehmer schaffen und instrumentalisieren die hohen Verständnisbarrieren, die zu überwinden sind, will man einen digitalen Vorgang nachvollziehen, und danach entscheiden, ob man ihn zulässt oder ihm entsagt.
Diese Entwicklung wird verstärkt, indem wir den Digitalunternehmern erlauben, sich auf Geschäfts- und Betriebsgeheimnisse zu berufen, anstatt sie gesetzlich aufzufordern, Funktionsweisen ihrer Systeme und Folgen offenzulegen, ständig aktuelle, einfach zu verstehende „Beipackzettel“ zu verwenden, die allein Grundlage jeder wirksamen Willensbekundung sein können.
Dem Zugriff der Rechtsordnungen entzogen
Der technische Imperativ der Digitalunternehmer fragmentiert unsere Wirklichkeit, führt zu einer Auflösung unseres Verständnisses von einem menschlichen Leben in Würde, greift ohne sachliche Rechtfertigung in das Grundrecht zur institutionellen Selbstbestimmung jedes Einzelnen ein, ist verantwortungslos gegenüber der unabhängigen Presse, schadet dem offenen und fairen Wettbewerb und nimmt einen schweren Eingriff in die Eigentumsrechte der Urheber, Verlage und der Inhalteschaffenden insgesamt in Kauf.
Dabei geht unsere Rechtsordnung von anderen Prämissen aus. Jedes Unternehmen und jede natürliche Person, welche in den territorialen Grenzen Deutschlands oder der Europäischen Gemeinschaft agieren, Geschäfte tätigen, unterliegen der Vollstreckung deutschen und europäischen Rechts und werden bei der Anwendung des Rechts gleich behandelt.
Nicht so der kleine Kreis der Digitalunternehmer, der die Trägheit gewaltenteiliger, rechtsstaatlicher Systeme ausnutzt, Internationalität und das jeweilige Gesellschaftsrecht operationalisiert, um sich dem Zugriff der Rechtsordnungen zu entziehen. Technisch wird von den Digitalmonopolisten alles Denkbare vollzogen in der Gewissheit, dass der Verstoß gegen das Recht heute schon morgen das Imperfekt der eigenen Geschäftstätigkeit ist.
Die Entscheidung liegt in unserer Hand
Die Vollstreckung des Rechts ängstigt die wenigen Monopolinhaber kaum, da die Durchsetzung des Rechts kaum zu einer Einschränkung ihrer unternehmerischen Freiheit wird. Zum einen sind die Wissensbarrieren für die Bewertung durch die Richter hoch. Zum anderen urteilen die Gerichte wegen der schnellen Innovationszyklen häufig über technisch-digitale Sachverhalte der Vergangenheit.
Es mag um die Zahlung hoher Summen durch die Datenmonopolisten an Geschädigte gehen, aber welche Geschäftstätigkeit von dauerhafter Relevanz sollten Gerichte einschränken können, wenn jeder technische Sachverhalt bei Urteilsverkündung regelmäßig nicht mehr aktuell ist? Der als Geschäftsgeheimnis couvrierte, sich ständig bewegende Algorithmus verstärkt dieses Ungleichgewicht. So schnell der eifrige Hase auch laufen mag, der Igel ist schon da.
Das ist der Sachverhalt, der unstreitig vor uns liegt. Was ist nun zu tun? Sind wir noch mündig und vernunftbegabt, müssen wir uns zurückertüchtigen, Grundrechte abwägen, entscheiden, was zu verlieren wäre uns fragen, wie wir weiterleben wollen: entweder wie Eric Schmidt, „selbstbestimmt, ohne uns durch andere definieren zu lassen“, mit dem Anspruch auf eine eigene Meinungsbildung als Voraussetzung für die Demokratie, die uns seit siebzig Jahren Frieden bringt, oder in einem fremdgelenkten Auto von Eric Schmidt?
Unser Vollstreckungsdefizit
Begreifen wir den Zusammenhang zwischen Freiheit und Recht, oder werden wir ein Profil auf einem der Facebook-Äcker mit kurzen, fremdgesetzten Ernteintervallen? Haben wir die Kraft, die Digitalunternehmer einzuhegen in bestehende Rechtsordnungen? Oder nehmen wir larmoyant den Legitimationsverlust für die Vollstreckung des staatlichen Gewaltmonopols in Kauf, indem Recht gegen nationale Unternehmen und natürliche Personen vollstreckt wird, während unsere Politiker sich von der Last des Wissens über unser bestehendes Recht befreien und unbeschwert die Ansicht vertreten, Digitalunternehmern könne man wirksam nur mit einer Weltrechtsordnung und Weltgerichten entgegentreten?
Eine solche Asymmetrie der diagnostizierten Verhältnisse werden wir erst wiederaufheben, wenn wir als Rechtsstaaten zum Schutze unserer Verfassungen auch hier Sozialprognosen wagen, uns wie bei der Anwendung des Strafrechts, trauen, Täter, die über lange Zeiträume Vergehen begehen, mit weitreichenden Auflagen und Meldepflichten bei der örtlichen Polizeidienststelle zu resozialisieren. Wir sind es, die das im Rahmen der Rechtsordnung entscheiden können. Wir sind es, die das mit staatlichem Gewaltmonopol auch durchsetzen können. Wir können die Igel an die Halsbänder legen.
Aber was ist zu beachten? Vom Allgemeinen zum Speziellen: Wir brauchen den Willen, geltendes Recht anzuwenden. Seit Jahren haben wir ein Vollstreckungsdefizit. Wir brauchen nicht in jedem Bereich mehr und andere Gesetze für die Anwendung von Recht auf analoge und digitale Sachverhalte des Lebens. Obwohl die Auswirkungen der Digitalisierung ungekannt sind, haben wir die richtige Ordnung, um zu agieren. Die Ordnung mag partiell ergänzungsbedürftig sein, wir haben aber kein falsches Recht für zu modernes Leben.
Anforderung an die Exekutive
Für das Vollstreckungsdefizit gibt es mehrere Gründe. Zum einen haben wir zu wenig Respekt vor der Demokratie. Demokratie ruht auf den drei geteilten Gewalten: der Judikative, der Legislative und der Exekutive. Die drei Gewalten stehen in einer Spannung zueinander, welche von den Funktionsträgern mit Kraft und Demut zu ertragen ist.
Eine Demokratie ist nicht lebendig, wenn gewählte Politiker zugleich die Richter sind oder Richter Gesetze tagespolitisch ausdeuten. Der Richter muss geltendes Recht anwenden und gleiche Sachverhalte gleich behandeln. Nur der Abgeordnete erlässt Gesetze. Handeln nach den Gesetzen darf die Exekutive, zugleich als erste Dienerin dem Rechtsstaat verpflichtet.
Möchten wir die polnische Verfassungskrise vermeiden, sollte die Exekutive sich als ein gleich- und nicht als ein übergeordneter Teil verstehen, ihr Verwaltungshandeln nach Gesetz und Urteil ausrichten und Ermessen nur ausüben, wo es ausdrücklich vorgesehen ist und nicht fortwährend überschießendes Handeln mit übergesetzlichen Notständen zu rechtfertigen suchen.
Zum Schaden der Demokratie
Es ist insbesondere die Aufgabe der Abgeordneten, den asymmetrischen Angriff der Digitalunternehmer auf die Freiheitsrechte der Verfassung, Art. 1–20 Grundgesetz, die den Kern unseres Zusammenlebens darstellen, zu parieren und ergänzendes Recht zu erlassen, das den Wesensgehalt der Grund- und Freiheitsrechte garantiert und den unaufgeklärten wie den aufgeklärten Bürger vor den wirtschaftlichen Interessen weniger Digitalunternehmer schützt; nicht mehr, aber auch nicht weniger.
Der Souverän, Gruppen von Bürgern, Lobbyisten wie „Netzaktivisten“ partizipieren, indem sie sich äußern und wählen. Sie können sich um den Erlass neuer Gesetze bemühen, eine Partei gründen oder der Partei ihre Stimme geben, die ihnen versprochen hat, „ihr Gesetz“ zu erlassen. Lautstärke ist von der negativen Freiheit der Verfassung gedeckt, ein digitaler Entrüstungssturm ist zulässig.
Gesetze, Urteile und Verwaltungshandeln ändert man in Demokratien auf diese Weise nicht. Eine übergreifende Aufladung der gewaltenteiligen Ordnung und ihrer staatlichen und gewählten Funktionsträger mit dem „Politischen“ schadet der Demokratie. In dem Umfang, in dem die jeweils aktuelle Politik das bestehende Recht durchdringt, verliert das Recht seine demokratische Legitimation.
Die Fähigkeit, die vielen fehlt
So ist es Ausdruck eines besorgniserregenden Verständnisses von der Teilung und Durchsetzung staatlicher Gewalt, wenn die Bundeskanzlerin Herrn Zuckerberg gelegentlich eines Abendessens, beim Dessert, in New York vorschlägt, doch nach Möglichkeit verständlichere Allgemeine Geschäftsbedingungen für Facebook zu verwenden oder der Bundesjustizminister Herrn Zuckerberg im Gespräch bittet, bei der Verbreitung von Hetze durch Facebook-„Nutzer“ doch die Geltung deutschen Strafrechts zu bedenken.
Die Verfassung und unsere darauf aufsetzende Rechtsordnung haben wir uns in Freiheit gegeben. Wir sind einig über ihren Wert. Sie regelt unser Leben im Verhältnis zum Staat und untereinander. Sie beschreibt und grenzt die Funktionen der Verfassungsorgane ein. Spannungen zwischen den Gewalten sind systembildend und strukturerhaltend. Das ist zu ertragen. Demokratie ist anstrengend.
Der weitere Grund für das Vollstreckungsdefizit sind einerseits die sich verstärkenden Wechselwirkungen zwischen zu viel Meinungs- und zu wenig Wissensgesellschaft. Andererseits betonen wir Individualität über, die sich häufig mit verkümmerter Demut gepaart hat, und so fehlt vielen von uns die Fähigkeit, sich als ein funktionaler Teil eines übergeordneten, zum Beispiel verfassungsrechtlich-demokratischen, Systems zu begreifen.
Gespaltene Gesellschaft
Die Überbetonung des Einzelnen, vermeintlich ohne Pflichten gegenüber der Demokratie, findet ihre Entsprechung in der Überbetonung der Meinung gegenüber dem Wissen. Der Einzelne ist wichtig. Jeder hat die gleichen Freiheitsrechte. Der Einzelne bleibt aber der kleinste Teil des Ganzen und hat auch in einer Demokratie Funktionen zu erfüllen und lediglich die vorgesehenen Mittel der Partizipation.
Fast jede Meinung in einer Demokratie ist zulässig, erhält aber erst Relevanz, wenn sie wahr und vernünftig ist, die Essenz des Wissens, in Beziehung gesetzt, korrigiert und verdichtet. Die digitale Distribution hat große Vorteile und hat uns den bequemen Zugang zu Wissen und die Vernetzung von Wissen ermöglicht. Unsere Fähigkeit, Inhalte und Meinungen abzulegen einzuordnen und zu „katalogisieren“, ist durch die bequeme digitale Verbreitung nicht gestiegen.
Der digitale Dauerblizzard der Meinungen und Inhalte ohne jede Relevanz hat vielmehr dem Relativismus, der keine Religion, Philosophie und Verfassung als universell und wahr anerkennt, weiteren Vorschub geleistet. Die Überbetonung der Individualität ohne jede Bindung anstelle des Wohls der Gemeinschaft, der Meinungen anstelle des Wissens findet Ausdruck in dem fehlenden Vertrag über das, was uns als westliche Gesellschaften zusammenhält. Wir sind gespaltener denn je.
Von der Unkultur des Unterlassens
Wir geben keine entschlossene Antwort über das Verbindende, universell Gültige. Der beschworene Hinweis auf ein gemeinsames kulturell-religiöses Erbe, unser großes verfassungsrechtliches Vermächtnis, ist so verstörend wie ernüchternd. Wir sollten in der Diagnose einig sein, dass wir eine kulturelle und religiöse Gegenwart und Zukunft brauchen, eine wunderbare und funktionierende Verfassung bereits haben. Unsere Zukunft kann nicht individuell oder gar von wenigen Wirtschaftsunternehmern für uns ausgemacht werden.
Auch der digitale Teil unserer Zukunft ist zu verankern und muss sich gründen auf universelle Werte wie Selbstbestimmung, versöhnt mit der Verantwortung für die Schwachen, Erkenntnis, Vernunft, Wahrheit, das Recht als Voraussetzung der Freiheit. Nur der Wille, diese universellen Werte auch zu vollstrecken, wird unsere Fähigkeit erhalten, auf komplexe Sachverhalte, auch digitale Umstände, differenzierte und kluge Antworten zu finden.
Der dritte Grund für das Vollstreckungsdefizit liegt darin, dass der Relativismus eine Unkultur des Unterlassens hervorgebracht hat. Wir dürfen uns aber von komplexen, globalen Sachverhalten nicht überfordern lassen. Untätigkeit bei der Rechtsanwendung und Vollstreckung sowie bei dem Erlass ergänzender Gesetze darf nicht mit vermeintlicher Differenziertheit, dem Hinweis auf unverständliche, sich ständig überholende technische Lebenssachverhalte, fehlende Weltrechtsordnungen und Weltgerichte begründet werden.
Negative Freiheit eingeschlossen
Erst recht sollten Legislative und Judikative handeln, um es nicht der raumgreifenden Exekutive zu überlassen, sich den wenigen Digitalunternehmen, wie sonst nur unter Staaten üblich, zur Regelung der Probleme gesprächsweise beim Abendessen zu nähern. Die Unkultur des resignativen Unterlassens ist zu ersetzen durch eine Kultur des Handelns in Verantwortung. Die Funktionsträger in Verantwortung sollten sich dabei stets bewusst sein, dass Versäumnis und Unterlassen sie regelmäßig schwerer belasten als ein Fehlgreifen in der Wahl der Mittel.
Vom Allgemeinen zum Besonderen der Digitalisierung: Der Freiheitsbegriff unserer Verfassung schließt die negative Freiheit ein. Wir verbieten daher zu Recht das Rauchen nicht. Wenngleich wahrscheinlich 99 Prozent der Bundesbürger um die Gesundheitsschädigung durch Nikotin wissen, zwingen wir den Bürger zu einer Entscheidung in Freiheit, dessen Voraussetzung das Wissen um die Folgen des Rauchens ist.
Wir erlauben den Verkauf von Zigaretten nur, soweit sich Bilder von Gesundheitsschädigungen auf den Schachteln finden. Wir wollen dabei nicht nur eine Entscheidung in Freiheit und mit dem notwendigen Wissen erzwingen, sondern haben einen erzieherischen Impetus, den wir mit dem hohen Gut der Gesundheit des Einzelnen auch für die kollektiven Gesundheitssysteme rechtfertigen.
So sollte der digitale Beipackzettel aussehen
Ganz ähnlich hat ein Arzneimittelhersteller vor und nicht nach dem Verkauf seiner Medikamente alles zu unternehmen, um dem europäischen und deutschen Recht für die Zulassung von Arzneimitteln zu entsprechen. Er hat bei jedem Verkauf der Medikamente sicherzustellen, dass im Beipackzettel auf Nebenwirkungen und Interdependenzen mit anderen Medikamenten hingewiesen wird.
Die Digitalisierung dieser Art gefährdet unsere Gesundheit, reduziert unsere kognitiven und intellektuellen Fähigkeiten. Mit dem Ziel der Reertüchtigung aller zu „mündigen Nutzern“ brauchen wir sehr bald den Erlass eines Digitalgesetzes. Im besonderen Teil eines solchen Digitalgesetzes ist jeder Digitalunternehmer zu verpflichten, „Nutzern“ und „Geschäftspartnern“ vor jeder Bestellung, etwa auf Amazon, jeder Suchanfrage bei Google und jedem Facebook-Eintrag verständlich und in einfachen Worten, in einem graphisch deutlich abgesetzten Kasten, zu erklären:
– dass jede „Nutzung“ der digitalen Oberflächen ggf. mit persönlichen Daten bezahlt wird;
– dass Werbeprofile jedes „Nutzers“ erstellt werden, um von dem Digitalunternehmer mit hohem Gewinn u. a. an die werbungtreibende Industrie veräußert zu werden;
– wer die persönlichen und andere Daten im Einzelnen und wie lange nutzt;
– ob persönliche und andere Daten gelöscht werden können und, wenn ja, wie;
– wie der Digitalunternehmer sich finanziert, seine Umsätze erzielt;
– welchen Marktanteil der jeweilige Digitalunternehmer auf den verschiedenen, mehrseitigen, Märkten hat;
– wie sich vorangegangene Datenlieferungen der „Nutzer“ im Rahmen von Suchen, Bestellungen, Einträgen, digitalen Tätigkeiten jeder Art auf die aktuellen Profile, die neuen Suchen, Bestellungen, Einträge sowie digitalen Tätigkeiten des „Nutzers“ auswirken;
– wofür die Digitalunternehmer die jeweiligen Algorithmen als Problemlöser verwenden und wie die Funktionsweisen dieser Problemlöser sind;
– welches die Impulse sind, die die ständigen Veränderungen der Algorithmen auslösen;
– ob und, wenn ja, welche Mechanismen der Digitalunternehmer installiert hat, um Manipulationen der „Nutzer“, zum Beispiel bei Wahlen, auszuschließen.
Anonymität muss eine begründende Ausnahme bleiben
Der Bestellende, der Suchende und der Eintragende sollte vor jeder „Nutzung“ von Oberflächen der Digitalunternehmer, mithin vor jeder Datenlieferung, durch aktives Ankreuzen erklären, dass ihm die geschilderte Funktionsweise bewusst ist und er die Nutzung des Angebotes dennoch wünscht. Der digitale Beipackzettel ist, wie bei Arzneimitteln auch, vorab „behördlich“ freizugeben und auf gute Wahrnehmbarkeit, Verständlichkeit für jedermann und gebotene Kürze zu überprüfen.
Zur Vergewisserung sollte dieses Digitalgesetz auch einen Allgemeinen Teil haben, auch wenn dieser überwiegend therapeutisch ist und Selbstverständliches noch einmal feststellt. Dazu gehört die Pflicht von Digitalunternehmern, ohne Zustimmung der Eigentümer nicht das geistige Eigentum zu verletzen, Artikel 14 Grundgesetz. Dazu könnte, noch allgemeiner, eine generalklauselartige Feststellung gehören, dass Leistungsergebnisse Dritter nur dann zur Grundlage digitaler Geschäftsmodelle gemacht werden können, wenn vorher eine Einigung zwischen Digitalunternehmer und dem Inhaber der Leistungsergebnisse vorliegt.
Digitalunternehmer müssen vollstreckungsfähige Unternehmenssitze in dem Land nachweisen, in welchem die Umsätze der Digitalunternehmer oder ihrer Obergesellschaften entstehen. Wiederholt werden sollte der Grundsatz, dass jede Anwendung unserer Gesetze eine Zuordnung von personalem Verhalten voraussetzt. Diese Zuordnung ist nur möglich, wenn alle digital Beteiligten sich zu erkennen geben und Anonymität „im Netz“ nicht wie heute die Regel, sondern die zu begründende Ausnahme bleibt.
Gleiches Recht für alle
Für jeden Digitalunternehmer ist festzustellen, dass nicht – wie durch Apple in den Vereinigten Staaten beansprucht – er über die Weitergabe von Informationen an den Staat entscheidet, sondern der Staat die Grundrechtsabwägung vornimmt und prüft, wann eine Berufung auf Privat‑, Geheim- und Intimsphäre durch den Grundrechtsträger selbst nicht mehr möglich ist. Verstößt der Grundrechtsträger gegen die Rechtsordnung, etwa gegen das Strafrecht, ist eine Herausgabe sämtlicher Profile durch den Digitalunternehmer an staatliche Stellen selbstverständlich.
Wir diskutieren ja auch nicht, ob die Polizei das Recht hat, in digitalisierten, selbstfahrenden Personenzügen einen Räuber festzunehmen, obwohl der Räuber Stammkunde der Deutschen Bahn ist. Nicht nur verbieten wir Werbung für Rauchwaren, sondern zeigen dem Raucher wieder und wieder die Bilder der typischen Krankheiten. Dem Arzneimittelkonsumenten muten wir den Gang in die Apotheke zu, das Beratungsgespräch und den Beipackzettel.
Auch mit Blick auf diese Beispiele sind die genannten Aufklärungsverpflichtungen des Digitalunternehmers erforderlich, geeignet und zumutbar, um unsere Gesundheit zu erhalten und wiederherzustellen. Für Arzneimittelhersteller und Digitalunternehmer würde nach Erlass eines Digitalgesetzes diesen oder ähnlichen Inhalts wieder gleiches Recht gelten, Artikel 3 Grundgesetz.
Die Digitalisierung resozialisieren
Wer die Zulassungsvoraussetzungen nicht einhält und den Beipackzettel vergisst, kann sein Medikament in Deutschland nicht verkaufen. Digitalunternehmer, die in Deutschland mangels Anschrift nur unkörperlich anwesend sein möchten, digital mit „nicht auffindbar“ gleichsetzen und ihren Datenlieferanten die Funktionsweise des Algorithmus nicht erklären wollen, können ihre vermeintlichen „Dienste“ in Deutschland dann nicht mehr anbieten.
Resozialisieren wir diese Digitalisierung in unsere Gesellschaftsordnung – holen wir, jeder an seinem Platz und in unseren geteilten Funktionen, unsere Zukunft in Selbstbestimmung und Freiheit zurück, denn, wie Immanuel Kant sagte: „Die Notwendigkeit zu entscheiden reicht weiter als die Möglichkeit zu erkennen.“