Gastbeitrag Christoph Schwennicke in SZ: “Euer gutes Recht”
Der erste große Fehler der Verlage war es, Texte gratis ins Netz zu stellen. Wenn professioneller Journalismus überleben soll, müssen sie einen zweiten vermeiden.
Früher war auch nicht alles besser, nicht einmal wirklich anders. Gab es zum Beispiel die gute alte Zeit wirklich, in der grenzenloser Pluralismus und Medienvielfalt existierte? Die Pressefreiheit, befand 1965 der Gründungsherausgeber der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, Paul Sethe, sei “die Freiheit von zweihundert reichen Leuten, ihre Meinung zu verbreiten”. Aber, und das ist der Unterschied zu heute: Die Sichtbarkeit auf dem Markt der Meinungen war für alle gleich. Wer wollte, gründete eine Zeitung oder eine Zeitschrift. Einzige Bedingungen waren die Existenz von Druckmaschinen und ein funktionierender Vertriebs. Danach war die Zeitungslizenz über Jahrzehnte auch die Lizenz zum Gelddrucken. Die Firmen und Marken rannten den Anzeigenabteilungen die Schalter ein, die Zeitungen schwollen durch die Werbung zu holzscheitdicken Ausgaben an. Das sicherte die Grundlage für guten und kostspieligen Journalismus. Und damit ganz nebenbei auch die Grundlage für eine pluralistische Gesellschaft.
Während der goldenen Jahrzehnte hinkte die Branche notorisch hinter der Wirklichkeit hinterher. Die Verlage haben weder geahnt noch gesehen, wie schnell eine technische Neuerung mit einem Mal alles verändern würde. Die Druckmaschine und der Vertrieb sind heute ersetzt durch den digitalen Raum und die digitalen Leitungen. Wer sich hier etabliert, der hat auch die Hegemonie über die Meinungen und bestimmt, was überhaupt existiert. Googles Algorithmus legt fest, welche ersten Plätze beim Suchbegriffspaar “Putin” und “Ukraine” von wem belegt werden. Analog hat der Algorithmus von Facebook die Macht darüber, wessen Post bei wem und in welcher Intensität ausgespielt wird. Ihr Monopol ist mit Wettbewerb nicht mehr zu brechen. Wer droht zum Konkurrenten zu werden, wird aufgekauft. Das Prinzip, dass es nur einen Sieger geben kann, steigert sich im digitalen Kapitalismus ins Absolute.
Auch wenn eine Regulierung mühsam und viel zu langsam nachgeholt wird, fehlt sie doch aktuell schmerzlich. Die Plattformen agieren weitgehend unbehelligt von Recht und Steuern und verdienen sich dumm und dusselig dabei. 80 bis 90 Prozent allen Anzeigenaufkommens hat sich zu ihnen hin verlagert, und diese Tendenz galoppiert weiter. Die konventionellen Pressemedien, Magazine und Zeitungen inklusive ihrer digitalen Kanäle, dürfen einen Rest unter sich aufteilen, der jedes Jahr kleiner wird.
Die Verlage haben nur begrenzt verstanden, auf welchem kostbaren Schatz sie sitzen
Dabei gäbe es Chancen, das zu ändern. Man müsste sie nur erkennen. Der Vermögensverwalter Blackrock Inc. mit Sitz in New York hat sie erkannt. Mit einem Jahresumsatz von 16,2 Milliarden US-Dollar und einem verwalteten Vermögen von über 10 Billionen Dollar ist Blackrock ein Trüffelschwein des Geldes. Die Investmentfirma weiß, wo die Zukunft liegt.
Nun hat Blackrock den Schatz der Rechte entdeckt und beginnt, ihn zu heben. Hipgnosis heißt der eine Milliarde Dollar schwere Fonds, mit dem die Firma Musikrechte aufkauft. Der Fonds hat schon einen Großteil der Kompositionen von Fleetwood Mac, sowie die Gesamtwerke der Red Hot Chili Peppers und von Leonard Cohen im Portfolio. Auch Bob Dylan verkaufte seine Songrechte, Sting und Bruce Springsteen. Sie alle haben begriffen, wie viel Geld sich mit den Rechten an ihren Schöpfungen verdienen lässt.
Die deutschen Verlagshäuser haben dagegen bis heute nur begrenzt verstanden, dass sie gegenüber den großen Plattformen wie Facebook und Google über einen ähnlich lukrativen Schatz verfügen. Das sind ihre eigenen, aufwändig recherchierten und aktuellen Inhalte, die auch nach dem Erscheinen millionenfach weiterverwertet werden. Doch sie haben sich noch nicht gelöst vom analogen Vertriebsdenken, dass eine Zeitung nach ihrer Auslieferung keinen Wert mehr hat.
Das stimmt aber nicht. Vor allem, weil seit Juni vergangenen Jahres in Deutschland wie in vielen anderen europäischen Ländern ein Presseleistungsschutzrecht gilt. Das ist ein Recht auf Basis einer europäischen Richtlinie, das am Urheberrecht andockt und die Verlage mit einem enormen Forderungspotenzial gegenüber den digitalen Konzernen ausstattet. Deren Geschäftsmodell basierte bisher darauf, die Inhalte von Presseverlegern kostenlos in ihren Diensten zu nutzen und ihr Angebot mit diesen Inhalten für Nutzer attraktiver zu machen.
Die Verlagshäuser waren lange so naiv, für die Weiterverbreitung ihrer Inhalte auf diesen Plattformen dankbar zu sein. Über den wahren Wert ihrer Inhalte sind sich viele auch nach der Einführung des neuen Rechts noch nicht bewusst. Stattdessen erinnert der Streit um die digitalen Rechte an koloniale Raubzüge. Google und Facebook bieten den Eingeborenen für scheinbar ödes Land ein paar Glasperlen, um dann die Schätze und Rohstoffe zu schürfen. Geschickt finden sie wichtige Verlage einzeln ab und drücken so die Preise. Erfolg ist für die Verlage allerdings nur gemeinsam möglich. Nur bei einem gemeinsamen Vorgehen können die Vergütungen weit höher liegen als das, was die Monopol-Giganten von sich aus anbieten.
Der erste Fehler war, Nachrichten gratis im Netz zu verteilen.
Dabei ändert sich gerade vieles zu Gunsten der Verlage. Neben dem Presseleistungsschutzrecht schafft auch der Digital Markets Act der Europäischen Union die rechtlichen Grundlagen für fairen Wettbewerb. In den USA debattiert man ganz anders über die Verantwortung der Digitalkonzerne und die Frage, wer Inhalte wie verwerten darf. Vor allem aber haben Streamingdienste wie Netflix und Amazon die Nutzerinnen und Nutzer an das Abomodell gewöhnt. Die sind nun bereit, für Qualität im Netz auch zu bezahlen.
Irgendwann begriffen sogar die großen Plattformen, dass da ein Prozess im Gange ist, der ihr Geschäftsmodell untergräbt. Ohne Inhalte funktioniert Google nicht mehr. Niemand braucht eine Suchmaschine. Aber jeder braucht Suchergebnisse. Und die kommen zu großen Teilen von der Presse. Ohne Presseinhalte ist auch Facebook todgeweiht, denn kein Mensch schaut sich auf Dauer nur diesen schlecht gelaunten Schund an, den weite Teile der Nutzer dort verbreiten. Facebook lebt zu einem guten Teil davon, dass Menschen ihren Freunden Presseinhalte anbieten. Das Überleben der traditionellen Medien ist auch für die Plattformen selbst existenziell.
Gerade mit diesem Mehrwert ist das neue Presseleistungsschutzrecht zu begründen. Es sollte die Digitalmonopolisten zwingen, für die Presseinhalte pauschal zu bezahlen, mit denen sie bislang gratis ihr Geschäftsmodell zum eigenen Vorteil betrieben. Dieses Recht ist das schärfste Schwert, das die Presse bislang im Überlebenskampf gegen die Digitalkonzerne von der Politik an die Hand bekommen hat.
Statt die Chance zu nutzen, liefern sich Verlage peinliche Schlammschlachten
Leider ist die Branche zum zweiten Mal in einem Vierteljahrhundert dabei, einen Jahrhundertfehler zu machen. Statt die Gunst des Gesetzes zu nutzen, leistet sich die Branche Scharmützel in ihrem Verband. Eitelkeiten, Animositäten und Missgunst triumphieren über Vernunft und Gemeinsinn. Nun steht vielen von ihnen das Wasser bis zum Hals. Sie brauchen das schnelle, kleine Geld von Google zum Überleben. Viele können auf das große Geld nicht warten, das vermutlich erst nach einem Gerichtsverfahren rückwirkend fließen wird. Die horrend steigenden Papierkosten machen die Lage nicht leichter. Die Digitalkonzerne nutzen die Not der Branche aus, die sie selbst geschaffen haben und missbrauchen ihre Monopolstellung, um den Inhaltlieferanten Dumping-Preise zu diktieren.
Es bewegt sich aber etwas atmosphärisch. Und politisch. Die Plattformen werden nicht mehr romantisiert als Urquell einer neuen Form der Demokratie. Vielmehr wird ihre gesellschaftszersetzende Seite gesehen. Lange Zeit hat sich die Politik nicht an die Plattformen herangetraut. Lange Zeit herrschte auch in einem Teil der, vor allem jüngeren, Öffentlichkeit der irrige Glaube vor, dass das Netz und seine Betreiber das Gute sind und jeder automatisch der Böse, der sie den fairen Bedingungen eines Marktes unterwerfen möchte. Längst sieht das Gros der Nutzerinnen und Nutzer die digitalen Räume äußerst kritisch. Die Politik hat das allmählich begriffen und handelt. Es wird Zeit, dass es auch die Verlage begreifen und ihren Fehler korrigieren. Sonst war es ihr letzter.
Dieser Text erschien zuerst im Feuilleton der Süddeutschen Zeitung vom 23. Mai 2022