Google und die Verlage: Wehrt Euch!
Google ist mit News Showcase über Nacht zum größten Medienanbieter der Welt geworden. 20 deutsche Verlage haben dem Konzern dazu verholfen. Ein Beitrag von Oliver Schmidt, Head of Content Strategy bei der VG Media
Wenn kommende Generationen von Journalisten, Politikern und Soziologen sich fragen, wann eigentlich alles so schrecklich schiefzugehen begann, sollten sie sich den 1. Oktober 2020 genau ansehen. An diesem Tag kündigte Google an, Verlagen eine Milliarde Dollar an „Lizenzzahlungen“ leisten zu wollen. Eine Zäsur, hatte sich Google doch bisher strikt geweigert, Verlagen Geld für die Nutzung von deren Inhalten in der Suchmaschine zu zahlen. Jetzt aber ist Google bereit, für die symbolträchtige Milliarde Content einzukaufen – nichts anderes heißt „Lizenzzahlung“ –, um ihn im eigenen Produkt Google News in voller Länge verwenden zu dürfen.
Dafür bekommt das Unternehmen in Deutschland, einem der beiden Startländer des Projekts, geschätzt 200 Artikel pro Tag. 1.400 Artikel pro Woche. 73.000 Artikel pro Jahr. Zieht man in Betracht, dass Google eine Partnerschaft mit 200 Verlagen weltweit angekündigt hat, dürfte der Suchmaschinenriese also innerhalb eines Jahres mindestens 800.000 journalistische Beiträge einkaufen. Damit wurde Google am 1. Oktober 2020 über Nacht zum weltweit größten Anbieter von journalistischem Content. Zum Vergleich: die größte Nachrichtenwebsite der Welt, die der New York Times, hat 2016 ein Zehntel dieser Menge veröffentlicht.
Google darf den eingekauften Inhalt in seinen Diensten anzeigen, zusammenfassen, übersetzen, verändern oder auch unterdrücken, wenn er nicht den Inhaltsrichtlinien Googles entspricht. So steht es im Vertrag, den die Verlage mit Google abgeschlossen haben (und der der Redaktion vorliegt). Unter den lizenzierten Inhalten finden sich nicht nur frei zugängliche Texte, sondern auch Videos, Bilder, Audios und Artikel, die Verlage hinter einer Paywall schützen und die Google News Showcase kostenlos anzeigen möchte. Damit hat sich Google eine entscheidende Position in einem demokratierelevanten Sektor erkauft. Ein Unternehmen, das in den letzten vier Jahren von der Europäischen Kommission insgesamt zu Strafen in Höhe von 8,25 Milliarden Euro verurteilt wurde, weil es seine marktbeherrschende Stellung missbraucht hat.
Bei diesem Coup haben Google die bisher größten Anbieter von journalistischem Content geholfen: Googles Partnerverlage. In Deutschland sind das die Zeit, die FAZ, der Spiegel, der Stern, der Tagesspiegel, Focus Online, das Manager Magazin, das Handelsblatt, die Wirtschaftswoche und eine Handvoll kleinerer Publikationen. Kurz gesagt: Mit Ausnahme der Süddeutschen Zeitung und den Titeln des Axel Springer Verlags als lautestem Gegner der Nutzung von Presseinhalten durch Digitalplattformen die gesamte bedeutende Presse des Landes. Und entgegen Googles bisherigem Narrativ, vor allem die Vielfalt der Lokalpresse und kleinerer Verlage unterstützen zu wollen, sind es genau die großen Angebote, denen Google nun einige Millionen im Jahr für ihren Content zahlt.
Entsprechend wohlwollend waren die Meldungen zu Googles Ankündigung. Die FAZ käute die Formulierungen der Google-Pressemitteilung wieder, Googles Investment sei der „bislang am weitesten gehende Schritt, um die Zukunft des Journalismus zu unterstützen“, und machte sich so mit der Sache von Google-Europachef Philipp Justus gemein. Spiegel und Stern verzichteten bis Redaktionsschluss gar auf eine Berichterstattung. Nach dem Motto: „Gehen Sie weiter, hier gibt es nichts zu sehen.“
Carsten Knop, Herausgeber der FAZ, sagte zudem: „Das neue Produkt gibt uns die Möglichkeit, unseren Qualitätsjournalismus noch mehr Lesern vorzustellen, die eventuell zu treuen Lesern und Abonnenten werden.“ Kurzer Realitätscheck: Die FAZ geht davon aus, dass Google-News-Leser zu zahlenden Abonnenten werden, nachdem sie vorher bei Google News die Breite an Nachrichten, perfekt gefiltert aus den verschiedensten Quellen und sogar kostenlos bekommen haben? Das ist, als würde Mercedes-Benz vermuten, dass Kunden künftig ihre Autos kaufen, wenn Mercedes sie nur lange genug kostenlos Taxi fahren lässt.
Aber warum legen die Verlage diesen Realitätsverlust nicht nur offen an den Tag, sondern verkünden stolz eine Zusammenarbeit mit Google? Es ist dieser Irrglaube, Google sei ein Freund der Verlage. Eine „Frenemy“-Strategie, wie sie viele Verlage nennen, die sich nicht entscheiden können, ob Facebook und Google nun Friend oder Enemy sind. Dazu kommt: Wer mit Google zusammenarbeitet, ist cool. Abstrahleffekt einer Marke und Imagetransfer nennen das Marketingprofis. Und den haben die meisten Verlage bitter nötig: Sie haben den digitalen Wandel verschlafen und begeben sich seit Jahren recht willig unter das Label der anderen.
Als das iPad auf den Markt kam, entwickelten sie Formate und digitale Zeitungen, die sich besonders gut auf dem Tablet konsumieren ließen. Für die Verlage ein Flop, für die Anbieter von Tablets willkommener Content für ihre angebotene Hardware. Mit dem Aufstieg von Facebook wuchsen in den Verlagen die Social-Media-Teams, die Verlagsinhalte so auf die Bedürfnisse der Netzwerke zuschnitten, dass Facebook-Nutzer auch dort ihre Nachrichten lesen konnten.
Das half den „sozialen“ Netzwerken, eine Diversität der Themen vorzugaukeln und ihr Angebot als großes Forum auch für Presseinhalte darzustellen. Für die Verlage entstand damit allerdings eine Abhängigkeit, die so groß wurde, dass bei jeder Änderung des Facebook-Algorithmus in den Redaktionen Panik ausbrach, weil plötzlich ihr Social-Media-Content schlechter angezeigt wurde und über Nacht die Nutzungen im zweistelligen Prozentbereich einbrachen.
Subtil wie ein bauchfreies Shirt auf einem Galadinner
Für die Bereitschaft der Verlage, an den digitalen Deus ex Machina zu glauben, der plötzlich kommt und sie vor dem Untergang rettet, hat Google viel getan. Mit der Google News Initiative und der Newsgeist Conference – einer Art Bilderberg-Konferenz für (Digital-)Journalisten – bearbeitet Google schon seit Jahren die entscheidenden Personen in den Verlagen. Hinzu kommen Fellowships, Stipendien für aussichtsreiche Jungjournalisten und natürlich eine Menge Lobbying. Ein Herantanzen an Geschäftsführer, Produktmanager und die Digitalstrategen der Verlage, das ungefähr so subtil war wie ein bauchfreies Shirt auf einem Galadinner. Als dann die Corona-Pandemie bei den Medienhäusern die Werbeeinnahmen implodieren ließ und den Verlagen das Wasser übers Kinn schwappte, war das Feld bereitet. Die große Chance für Google, seine U‑Boote loszuschicken.
Die Motivation der Verlage ist also: Geld, Prestige und die Aussicht, lieber Googles Friend als Googles Enemy zu sein. Wer kann es ihnen verübeln? Gegen ein 160-Milliarden-US-Dollar-Unternehmen zu kämpfen, das fast jeder liebt, ist wenig erfolgversprechend. Google ist ein flauschiger bunter Welpe, der nur spielen will. Einer mit 1 Billion Dollar Marktkapitalisierung, der sich gerade daranmacht, mit einem großen Happs das Internet zu fressen.
Aber was ist eigentlich Googles Motivation, von den Verlagen Lizenzen für eine Milliarde Dollar zu erwerben? Und hier nimmt die Geschichte noch einmal richtig Fahrt auf.
Wer sich den 1. Oktober ansieht, kommt nicht umhin, sich an den 25. Juni 2020 zu erinnern. Damals veröffentlichte Google zum ersten Mal die Nachricht, mit Verlagen für ein neues Google-News-Produkt zu verhandeln. Der Name: Publisher Curated News – die interne Bezeichnung und der semantisch doch etwas anders zu interpretierende Vorgänger von Google News Showcase. Wohl gemerkt: Es ging um Google News – den Aggregator von Nachrichten, auf dem keine Werbung angezeigt wird und der für Google so unbedeutend ist, dass ihn die Kalifornier in Spanien kurzerhand abschalteten, als die spanischen Verlage von Google verlangten, für die Anzeige ihrer Inhalte dort Geld zu bezahlen. Aber schon im Vertragsentwurf von Juni 2020 stand im Anhang, dass Google die lizenzierten Inhalte auch auf anderen Plattformen des Alphabet-Konzerns nutzen dürfte. In der Pressemitteilung vom 1. Oktober wird klar, dass Google genau das vorhat: Lizenzierte Pressetexte auf den Ergebnislisten der Google-Suche anzeigen lassen. Im Kleinen macht Google das heute schon.
Sucht man etwa nach „FC Barcelona“, werden – neben allerlei Infos zum FC Barcelona – kleine Kacheln angezeigt, in denen zu lesen ist: „FC Barcelona schlägt Celta Vigo in Unterzahl – Ansu Fati trifft.“ Damit ist das Spiel so ziemlich erzählt. Genau gegen diese Substitution von Nachrichten klagen weltweit Verleger unter dem Stichwort Presseleistungsschutzrecht. All diese Klagen werden mit dem neuen lizenzierten Inhalt von Google gegenstandslos. Wurden früher noch Verlage mit einer schlechteren Listung ihrer Angebote aus den Suchergebnissen bedroht und so Gratiseinwilligungen erpresst, muss Google bei der nächsten Auseinandersetzung nicht mehr drohen. Schließlich hat es genug Artikel eingekauft, um die anderen – gesetzlich vorgegebenen – Lizenzierungen zu ersetzen.
Googles Strategie ist es seither, einen One-Stop-Shop für Information zu kreieren. Angefangen mit Angeboten wie Google Bilder oder Videos liefert Google heute eine Menge mehr als nur eine Liste von Suchergebnissen. Wer auf der Suche nach einem Reiseziel ist und „Barcelona“ googelt, findet in den Ergebnissen: Eine Kurzbeschreibung von Barcelona, einen Stadtplan, eine Karte mit allen Restaurants & Co, den Wetterbericht, Flüge nach Barcelona, Hotels in Barcelona, die besten Sehenswürdigkeiten, Bilder, FAQs (Was man unbedingt in Barcelona machen sollte), Videos, Nachrichtenüberschriften und ja, auch zehn Suchergebnisse zu Barcelona – die machen aber nur noch 20 Prozent der angezeigten Fläche des First Screen aus.
Googles Ziel ist es, die Nutzer so lange wie möglich auf eigenen Angeboten zu halten, um Interaktionen zu generieren, Nutzerdaten zu sammeln und Werbekontakte herzustellen. Das funktioniert schon recht gut, wie die GfK ermittelt hat: 35 Prozent der Google-Nutzer landen beim nächsten Klick wieder auf einem Angebot des Alphabet-Konzerns. Google findet nicht mehr die Antwort auf Fragen, Google ist die Antwort. Google ist keine Suchmaschine mehr, Google ist ein Produktaggregator.
All diese Informationen zieht Google automatisiert aus frei zugänglichen Quellen. Es sind Daten, sie sind steril, oberflächlich. Roboterjournalismus. Seit vielen Jahren fürchten Journalisten, eines Tages von Robotern ersetzt zu werden. Schließlich werden schon jetzt Berichte von Fußballspielen, Wetter- oder Börsenberichte mit standardisierten Textschnipseln teilweise automatisch geschrieben. Worauf sich die Autoren aus Fleisch und Blut aber immer zurückzogen, war die Hoffnung, dass ein Roboter keine Hintergrundberichte verfassen, keine Meinungsstücke schreiben, keine Einordnung geben könne. Ein Roboter sei nicht kreativ. Deswegen würden Roboter die Schreiber nie komplett ersetzen. Müssen sie auch gar nicht. Am 1. Oktober 2020 hat der größte Roboter der Welt die Kreativität einfach eingekauft.
Google ist der ultimative Gatekeeper. Gastgeber einer kostenlosen Party, bei der heimlich Fotos von den Gästen geschossen und am nächsten Tag an den Meistbietenden verkauft werden. Man müsste die Party einfach nicht besuchen. Dummerweise gibt es keine andere. Im Bereich der Suchmaschinen hatte Google im November 2019 einen Marktanteil in Deutschland von knapp 95 Prozent. Wollen Unternehmen im Netz gefunden werden, müssen sie mit Google kooperieren. Google ist kein marktbeherrschendes Unternehmen. Google ist der Markt. Und es baut Stück für Stück die Angebote der Marktteilnehmer selbst nach und bietet sie zu seinen Konditionen an.
Das Netz: eine Shopping-Mall mit den immer gleichen Filialen
Das Silicon Valley hat das Internet gekauft. Knapp die Hälfte des Netzes bestehen aus Angeboten von Netflix, Google, Amazon, Facebook, Microsoft und Apple. Zur Einordnung: Das gesamte Internet besteht aus rund 1,8 Milliarden Websites. Wenn im Jahr 2019 Menschen auf die Straßen gingen mit dem Schlachtruf #SaveTheInternet, dann in der irrigen Annahme, dass ihr Gegner der Überwachungsstaat sei oder die gierigen Verlage, die die „Freiheit im Netz“ einschränken wollen. Die Freiheit im Netz ist eine Illusion. Das „Netz“ ist zu einer riesigen Online-Shoppingmall geworden mit den immer gleichen Filialen: Google, Amazon, Facebook, Apple. Aus jeder Ecke schreit es: Kaufe! Klicke! Glaube! Ein psychologisch gut konstruiertes Labyrinth. #SaveTheInternet hat für die Freiheit eines 160-Milliarden-Dollar-Unternehmens demonstriert. Die gelungenste Form von kommerzieller Desinformation aller Zeiten.
Dabei wäre es 2019 noch nicht zu spät gewesen. Wäre die EU-Urheberrechtsrichtlinie in allen Mitgliedsländern so zügig umgesetzt worden wie in Frankreich, hätte sich die Presse der Desinformation und Ausbeutung mit einem geraden Rücken entgegenstellen können. Doch während sich die in Deutschland zuständigen Ministerien – allen voran das Bundesjustizministerium – mit Hahnenkämpfen beschäftigt haben, sind die Bemühungen um eine plurale Presse im Netz sinnlos geworden. Google hat die Pressefreiheit gekauft. Was die Reaktionen oder eben Nichtreaktionen der vielen Google-Partnerverlage auf Googles Vorstellung des „Showcases“ zeigen.
Die werden all das abstreiten. Sie werden sagen, dass die Zusammenarbeit ein Testlauf ist, der Vertrag jederzeit kündbar, die Lizenzzahlungen „Money for nothing“ – Geld für schon geschriebene, auf der eigenen Website verwertete Texte. Aber wo findet die Verwertung wirklich statt? Künftig auf den Servern von Google. Wenn Leser abwandern, die Zahlen neuer Digitalabos schrittweise zurückgehen, weil Nutzer Premiumcontent bei Google finden, ist es zu spät. Ein Partnerverlag, der die Zusammenarbeit mit Google kündigt, wird durch den nächsten Willigen ersetzt. Der Google-Vize Brad Bender schreibt es selbst: Die Zahlung im Rahmen von Google News Showcase könne „nicht alle Nachrichtenorganisationen abdecken, auch weil nicht alle Verlage den Umfang und die Art der Inhalte produzieren, die für dieses Produkt erforderlich sind. Google entscheidet, mit wem eine Partnerschaft eingegangen wird.“ Google entscheidet, wer bezahlt wird. Die User werden indes nicht wiederkommen. Und das alles für wie viel? Vielleicht eine Million Euro pro Jahr bei einem mittelgroßen Verlag? War das der Preis der unternehmerischen Freiheit?
Nein. Das war auch der Preis der journalistischen Freiheit. Denn der Google-Vertrag hat einige weitere Petitessen. So müssen die Inhalte, die bei Google News Showcase gezeigt werden, den Inhaltsrichtlinien von Google News entsprechen. Diese verbieten momentan verständlicherweise Dinge wie den Aufruf zur Gewalt, Pornografie, Hate Speech und so weiter. Aber was darunter zu verstehen ist, definiert Google.
Wenn ein Verlag also Inhalte liefert, die gegen die Richtlinien verstoßen, kann dieser einfach zensiert werden. Die Frage ist nicht, ob Google das auch tut oder ob wir glauben, dass sie das tun. Die Frage ist, ob sie das dürfen. Und die Antwort lautet: Ja! Genau das erlaubt der Vertrag. Mehr noch: Die Inhaltsrichtlinien dürfen einseitig geändert werden. Ein Schmähgedicht über den türkischen – oder vielleicht amerikanischen – Präsidenten? In einer Demokratie vielleicht Satire, für Google aber sicher Hate Speech. Es wird mit Grenzfällen anfangen. Wie lange dauert es aber, bis kritische, ja bissige Kommentare über die Praktiken der Digitalgiganten als geschäftsschädigend eingestuft werden und damit gegen die Inhaltsrichtlinien verstoßen? Google bestimmt, was gesagt werden darf und was nicht.
Das würde Google doch nie tun, oder? Hm. Der schwedische Journalist Andreas Ekström berichtete 2015 in einem TED-Talk, wie Michelle Obama 2009 das Opfer einer rassistischen Kampagne wurde. Ein Bild von ihr wurde so entstellt, dass es aussah wie ein Affe. Dieses Bild wurde mit „MichelleObama.jpg“ betitelt und auf verschiedensten Plattformen hochgeladen. Es funktionierte. Wer 2009 nach Bildern von Michelle Obama googelte, fand dieses geschmacklose Bild. Google schritt ein, schrieb einen Code und entfernte so das Bild manuell aus den Suchergebnissen. Niemand würde anzweifeln, dass das ein verantwortungsvoller Schritt war. Ein Eingriff in ein System, das kompromittiert wurde. 2011 tötete der Rechtsterrorist Anders Breivik 2011 in Norwegen bei einem Anschlag 77 Menschen, darunter viele Kinder. Daraufhin rief der schwedische Webentwickler Nikke Lindqvist seine Follower auf, Bilder von Hundehaufen zu suchen, sie mit „Breivik.jpeg“ zu benennen und auf ihren Blogs hochzuladen. Auch das funktionierte.
Die kritische Masse ist erreicht, die Kettenreaktion ausgelöst
Die Google-Bildersuche war voller Hundehaufen-Breiviks. Dieses Mal reagierte Google nicht. Google hatte sich für seine Leitplanken entschieden. Michelle Obama verunglimpfen: geht nicht; Breivik verunglimpfen: geht. Nachvollziehbar, moralisch richtig, vielleicht sogar ein wenig lustig. Ein brauner Terrorist als Hundehaufen. Aber Fakt ist: Google hat entschieden. Und hat damit bewiesen, dass sie Content checken und im Zweifel eingreifen. Nach ihren Standards.
Was ist mit den Verlagen, die diese Eingriffe in ihre Pressefreiheit nicht hinnehmen wollen? Was ist mit Verlagen, die sich nicht am neuen Google-Produkt beteiligen? Oder von Google gar nicht zur Party eingeladen wurden? Neben den Springer-Titeln und der Süddeutschen sind das so ziemlich alle kleinen Lokal- und Regionalzeitungen. Sie können noch auf ihren eigenen Websites publizieren. Der Zugang zum Gesamtmarkt kann ihnen aber einfach versperrt werden. Die Pressefreiheit nach Artikel 5 Grundgesetz musste so nicht staatlich oder über Berufskammern eingeschränkt, keine Journalisten mussten eingesperrt werden. Es reichte, sie auszusperren. Die Verlage langsam, aber sicher auszutrocknen.
Und nun? Was lässt sich dagegen unternehmen? Wer steht demnächst den debilen Verschwörungstheoretikern von QAnon mit Fakten gegenüber, wenn die Verlage ihre wirtschaftliche Grundlage verloren haben? Wer berichtet vielseitig über Pandemien, wenn die Redaktion gerade groß genug ist, um Nachrichtenagenturen zu übernehmen? Wer entlarvt russische Propaganda auf Youtube? Die Politik könnte eingreifen, könnte die Verlage vor sich selbst schützen. Würde aber schwierig werden, schließlich wurden Verträge zwischen privatwirtschaftlichen Unternehmen geschlossen.
Man könnte sich vielleicht die Medienkonzentration anschauen, die da auf Seiten von Google entsteht. Oder in einem europäischen Vorgehen Google den Marktzugang verbieten. Das Unternehmen zerschlagen, regulieren, stoppen. Aber geht das wirklich noch? Wenn Google Zehntausende mobilisieren kann, um gegen ein unliebsames Urheberrechtsgesetz zu demonstrieren, was wird das fünftgrößte Unternehmen der Welt (auf Platz 3 und 4 stehen Amazon und Apple) gegen die eigene Zerschlagung ins Feld führen?
Die beiden Startmärkte von Google News Showcase sind Deutschland und Brasilien. Googles Begründung dafür: in den beiden Märkten sind genügend Verlage zur Kooperation bereit gewesen, um „die kritische Masse“ zu erreichen. Die Kettenreaktion ist hier also ausgelöst. Bleibt zu hoffen, dass in den anderen schon angekündigten Märkten weltweit die Kernschmelze noch aufzuhalten ist. Sonst werden spätere Generationen tatsächlich auf den 1. Oktober 2020 als schwarzen Tag zurückblicken. Aber nur, falls sie dazu noch Hintergrundberichte auf Google finden. Vielleicht verstoßen die dann ja gegen die Inhaltsrichtlinien.
Der Gastbeitrag von Oliver Schmidt ist im HORIZONT 43/20 am 22. Oktober 2020 erschienen und kann unter dem unten stehenden Link abgerufen werden.